Gerade von Wählergemeinschaften wird häufig und gern betont, wie frei und unabhängig sie und ihre Mitglieder doch seien, ganz im Gegensatz zu den etablierten Parteien. Dementsprechend wird der unter jenen gescholtenen Parteien übliche sogenannte „Fraktionszwang“ als undemokratisch und „Feind der freien Mandatsausübung“ des frei gewählten Bürgerschaftsabgeordneten gegeißelt. Als Beispiel mögen die „Bürger für Lübeck“ dienen. Deren fehlendes Wahlprogramm machte diese (nach eigenem Bekunden) „unabhängige Wählervereinigung“ mit dem allgemein gehaltenen Versprechen wett, „jenseits von Partei-Ideologien dem ‘gesunden Menschenverstand’ wieder mehr Geltung in der Lübecker Bürgerschaft zu verschaffen“. „Mehr Sach- und Fachkunde“ werde „. direkt durch die Bürgerschafts-Kandidaten der BfL eingebracht“. Das – überaus ernüchternde – Ergebnis kennen wir mittlerweile. Aber darum soll es an dieser Stelle nicht gehen, sondern vielmehr darum, dass sich mehr und mehr herauskristallisiert hat, wie unterschiedlich die einzelnen Mitglieder der BfL-Bürgerschaftsfraktion den Begriff des „gesunden Menschenverstandes“ bei konkreten Sachthemen doch sehen und ausleben. Deshalb ist es fast schon eher die Regel als die Ausnahme, dass die BfL-Vertreter im Kommunalparlament zu einzelnen Tagesordnungspunkten höchst unterschiedlich abstimmen. Eine einheitliche, klare Linie, wofür denn die BfL als Vereinigung bei einzelnen Sachthemen steht, ist dadurch kaum erkennbar. Dieses „Abstimmungs-Tohuwabohu“ wird von BfL-Leuten dann auch noch gern als „Leben politischer Freiheit“ gepriesen (vgl. Stadtzeitungsbeitrag der BfL vom 10.11.2009).
Bei näherer Betrachtung stellt sich derlei „Freigeist“ allerdings häufig genug als schlichte Wähler(ent)täuschung dar. Schließlich haben alle Mitglieder der BfL-Fraktion ihre Mandate nur deshalb erhalten, weil sie sich auf dem Wahllistenvorschlag der BfL befunden haben. Wären die Fraktionsmitglieder als Einzelbewerber zur Kommunalwahl angetreten, säße wohl kein einziger von ihnen heute in der Bürgerschaft. Aus diesem Umstand leitet sich ein moralischer Anspruch der Wähler der BfL ab, dass die über die BfL-Liste gewählten Mandatsträger auch einheitlich im Sinne der Leitlinien dieser Wählergemeinschaft abstimmen.
Diese berechtigte Wählererwartung hat mit undemokratischer Zwangsausübung auf das einzelne Fraktionsmitglied rein gar nichts zu tun. Insofern ist der Begriff „Fraktionszwang“ falsch und irreführend (wenn er von mir trotzdem verwendet wird, dann nur, weil er sich fest eingebürgert hat). Eine Fraktion hat letztlich keinerlei „handfeste“ Mittel, um Druck auf einzelne Mitglieder im Sinne eines bestimmten Abstimmungsverhaltens auszuüben. Die Ausübung von „Fraktionszwang“ besteht im Ergebnis nur darin, den/die Abweichler von der Mehrheitsmeinung innerhalb der Fraktion durch „gute (manchmal auch deutlichere) Worte“ von dem Sinn zu überzeugen, mit der Fraktion zu stimmen, um das Bild der Geschlossenheit der Gesamt-Fraktion zu wahren. Ein derartiger Appell an das Zusammengehörigkeitsgefühl des potentiellen Abweichlers wird zudem i.d.R. erst erforderlich, wenn zuvor alle anderen Kompromissmöglichkeiten zur Gewinnung einer einheitlichen Linie erfolglos ausgelotet worden sind.
Die Ausübung eines „Fraktionszwangs“ in diesem Sinne beeinträchtigt das Bürgerschaftsmitglied mitnichten unzulässig in seinen „Abgeordneten“-Rechten (die Anführungsstriche sind deshalb angebracht, weil die Bürgerschaft als Kommunalvertretung kein Parlament im staatsrechtlichen Sinn und das dortige Mitglied folglich kein „Abgeordneter“ im eigentlichen Sinn ist). Diese sind durch die Gemeindeordnung geschützt (§ 32 Abs. 1: „Die Gemeindevertreterinnen und -vertreter handeln in ihrer Tätigkeit nach ihrer freien, durch das öffentliche Wohl bestimmten Überzeugung.“). Vielmehr ist es geradezu gesetzliche Aufgabe einer (Bürgerschafts-)Fraktion bzw. deren Führung, auf eine einheitliche Meinung innerhalb der Fraktion hinzuwirken. Das folgt aus dem Begriff der Fraktion (§ 32 a GO S-H). In der (höchstrichterlichen) Rechtssprechung ist seit jeher anerkannt, dass es zum Wesen einer Fraktion gehört, die „Willensbildung und Entscheidungsfindung im Plenum“ (d.h., in der Bürgerschaft) „vorzuprägen, indem sie vor der Plenardebatte und –abstimmung in interner Meinungsbildung Willensblöcke bilden, die sie im Plenum möglichst geschlossen zur Geltung bringen“ (vgl. OVG Münster, DÖV 2005, S. 432). Letztlich rechtfertigt sich aufgrund dieser Funktion der Fraktionen auch nur deren Privilegierung gegenüber fraktionslosen Bürgerschaftsmitgliedern – nicht zuletzt durch die Bereitstellung von (erheblichen) Fraktionszuwendungen aus dem städtischen Haushalt.
Daraus lässt sich überspitzt ableiten, dass das Ausleben „politischer Freiheit“ durch grundsätzliche „Freigabe“ des Abstimmungsverhaltens, also dem Verzicht auf Ausübung des „Fraktionszwangs“, streng genommen nichts anderes ist als das Erschleichen des Fraktionsstatus’ – und nicht zuletzt von finanziellen (Fraktions-)Zuweisungen der Stadt.
Diese Kritik richtet sich nicht nur gegen die Fraktion „Bürger für Lübeck“, auch wenn diese sich in besonderer und zum Teil nachgerade aufdringlicher Weise als „frei“ (wovon eigentlich?) geriert. Auch die FDP-Fraktion, der ich bis Anfang Mai vorstand, ist keineswegs frei von derlei falsch verstandener Liberalität und Individualität, wodurch mittelfristig deren Wählbarkeit in Frage gestellt wird. Weshalb sollte man bei der Kommunalwahl 2013 die FDP wählen, wenn man als Wähler nicht einmal halbwegs sicher sein kann, dass die gewählten Vertreter der Partei in der Bürgerschaft einig auftreten?